Sekunden, Sinn und Staunen

Vortragsreihe ZEITZEICHEN begeisterte mit philosophisch-literarischer Zeitreise

LIMBURG | Zeit ist uns vertraut und doch ein Rätsel. Sie rinnt unsichtbar durch unsere Tage und hinterlässt Spuren in uns und allem, was uns umgibt. Ein Vortrag der Reihe ZEITZEICHEN machte aus dieser Flüchtigkeit ein Thema, das nachdenklich erfahrbar wurde. „Was ist Zeit?“ Mit dieser scheinbar schlichten, in Wahrheit unendlich tiefen Frage eröffnete Guido Brümmer seinen philosophisch-literarischen Streifzug durch Jahrhunderte des Denkens und Schreibens.

 

Von der Erdgeschichte zum Gleichnis im Glas

Brümmer, Lehrer für Philosophie, Theologie und Geschichte, erwies sich an diesem Abend als ein glänzender Vermittler zwischen Denkwelten. Mit leisem Humor und einer Sprache, die gleichermaßen zugänglich wie tiefgründig war, spannte er einen weiten Bogen, dessen Anfang er vor rund 400 Millionen Jahren setzte: im Devon, jener Epoche, als sich die ersten Wälder bildeten und Fische die Meere beherrschten. Über den Urkontinent Gondwana und die Verwerfungen der Erdplatten führte Brümmer hin zu Schiefergestein und Riesling. „Jeder Schluck präsentiert eine Ahnung dieser zeitlichen Vorgänge. Hier entsteht aus Geologie und Zivilisation eine Symphonie der Zeit“, sagte er. So wurde der Wein selbst zum Gleichnis, in dem Millionen Jahre Erdgeschichte und menschliche Kultur in einem Augenblick zusammenklingen.

 

Aristoteles und die Zeit als Maß der Veränderung

Von hier war es nur ein Schritt zu Aristoteles, der die Zeit nicht als eigenständiges Wesen, sondern als Maß der Veränderung begriff. In seiner Physik definierte er sie als „die Zahl der Bewegung hinsichtlich des Vorher und Nachher“. Eine Zeit ohne Wandel gibt es demnach nicht, denn Zeit wird erst dort erfahrbar, wo etwas geschieht, sich verwandelt, vergeht. Gleichwohl können wir Menschen nur staunen über den schmalen Streifen der Gegenwärtigkeit, „denn Vergangenes und Künftiges fällt sozusagen aus der Zeit“, wie Brümmer erklärte.

 

Von der Eisenbahnzeit zu Robinson Crusoe

Wie grundlegend sich der Umgang mit Zeit verändern konnte, zeigte sich mit der Erfindung der Eisenbahn. Solange Menschen zu Fuß, mit Pferden oder Kutschen unterwegs waren, genügten die Sonnenuhr im Dorf und die Kirchturmuhr im Ort. Mit dem länderübergreifenden Bahnverkehr aber entstand eine neue Dringlichkeit: Abfahrtszeiten mussten exakt berechnet und Ankunftszeiten aufeinander abgestimmt werden. Aus regional unterschiedlichen Ortszeiten wurde die Eisenbahnzeit, die schließlich in genormte Zonenzeiten mündete. Zeit wurde zur Infrastruktur, so verbindlich wie Schienen und Fahrpläne.

Von hier führte Brümmer den Blick zurück in die Literatur und erinnerte an Daniel Defoes Robinson Crusoe. Kaum gestrandet, notiert Crusoe als erstes gewissenhaft das Datum und legt einen Kalender an. Diese Selbstvergewisserung war für ihn mehr als praktische Ordnung. Sie wurde zum inneren Halt, zum Schutz vor Verwilderung und zum Zeichen, dass er trotz der Einsamkeit nicht vollständig aus der menschlichen Gemeinschaft gefallen war. Denn dieselbe Stunde, die er festhielt, schlug anderswo auch und verband ihn im Gedanken mit einer Welt, die weit entfernt, aber doch gegenwärtig blieb.

 

Existenz und Erinnerung

Auch der große Denker Martin Heidegger, einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, stellte die Zeit ins Zentrum seines Denkens. In Sein und Zeit beschreibt er das menschliche Dasein als „Sein zum Tode“. Damit deutet er an, dass unsere Endlichkeit die Bedingung ist, überhaupt bewusst zu leben. Zeit ist für ihn kein äußerliches Maß, sondern der innere Horizont, in dem sich unser Leben entfaltet. Wer die eigene Begrenztheit verdrängt, verliert den Zugang zu einem eigentlich gelebten Dasein.

Ganz anders näherte sich der französische Schriftsteller Marcel Proust, einer der großen Romanciers der Moderne, dem Thema. In seinem gewaltigen Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit geht es nicht um die lineare Abfolge von Stunden, sondern um die Macht der Erinnerung. Ein Duft oder ein Geschmack kann die Vergangenheit mit solcher Wucht zurückrufen, dass sie in der Gegenwart fast körperlich gegenwärtig wird. Zeit erscheint bei Proust nicht als Fluss, der verrinnt, sondern als Raum, in dem Erlebtes wieder aufscheinen kann.

Schließlich erinnerte Brümmer an Michael Ende, der in seinem weltbekannten Roman Momo die Zeit selbst zum Stoff einer Erzählung machte. Dort rauben die grauen Herren den Menschen die Stunden, die sie doch so dringend für Freundschaft, Muße und Phantasie brauchen. Momo, das kleine Mädchen mit der Gabe des Zuhörens, hält ihnen die gestohlene Zeit entgegen und wird so zur Hüterin des Augenblicks. Ende führt vor Augen, dass Zeit mehr ist als Minuten und Termine: Sie ist Lebensqualität, die sich im gemeinsamen Erleben erfüllt. Mit diesem Gedanken verband Brümmer seinen eigenen Appell an die Zuhörerinnen und Zuhörer: „Schenken Sie anderen Ihre Zeit!“

 

Ein Abend des Staunens

Die Vortragsreihe ZEITZEICHEN, veranstaltet vom Kirchort St. Marien der Pfarrei Katharina Kasper Limburger Land und dem Missionshaus der Pallottiner in Kooperation mit der Katholischen Erwachsenenbildung, erwies sich erneut als ein Format, das weit über bloße Wissensvermittlung hinausgeht. Es war ein Abend, der Denken und Empfinden in ein feines Gleichgewicht brachte.

Am Ende blieb das Gefühl, dass Zeit vielleicht gerade dort am lebendigsten wird, wo man sie vergisst: in Literatur, Gespräch und gemeinsamem Staunen.

 

Bitte merken Sie sich auch den kommenden Vortrag der Veranstaltungsreihe vor: am 13.10.2025 spricht Prof. Dr. Claudius Tanski über „Das Moment der Zeit in der Musik“.

Bitte merken Sie sich auch den kommenden Vortrag der Veranstaltungsreihe vor:
am 13.10.2025 spricht Prof. Dr. Claudius Tanski über „Das Moment der Zeit in der Musik“.

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