Der verletzliche Mensch
Den Menschen als verletzliches Wesen anzusehen ist eine neue ethische Perspektive. Schließlich schien immer alles zu „funktionieren“ für Gesellschaft und Individuum, geradezu automatisiert vorbestimmt gingen wir von ständiger Optimierung aus. Doch dies erwies sich als Irrtum.
Ein Gespräch mit dem Medizinethiker Prof. Dr. Giovanni Maio näherte sich dem Thema der Verletzlichkeit philosophisch. Dazu eingeladen hatten die Katholische Erwachsenenbildung Limburg und Wetzlar, Lahn-Dill-Eder (KEB) und Bestattungen Kirchberg Geschwister Ehmann.
VERLETZLICHKEIT UND KRISE
Tatsächlich leben wir in einer Ära, die stark von den Erfahrungen und Eindrücken der Verletzlichkeit geprägt ist. Besonders die Corona-Pandemie hat uns deutlich gemacht, dass jene Verletzlichkeit nicht nur ein Merkmal für Menschen in schwierigen Lebenslagen ist, sondern eine grundlegende Eigenschaft des menschlichen Daseins darstellt. Der Mensch ist verletzlich, da trotz aller Planungen unvorhergesehene Ereignisse nicht ausgeschlossen werden können. Jeder von uns kann jederzeit mit Herausforderungen konfrontiert werden, körperlich wie seelisch, und niemand ist davor geschützt.
INDIVIDUUM UND KOLLEKTIV
Maio machte deutlich, dass Verwundbarkeit und Abhängigkeit, trotz des individuellen Strebens nach Autonomie, zu den zentralen Aspekten des menschlichen Daseins gehören. „Die Annahme, ich könnte mich selbst aus eigener Kraft zu einem autonomen Menschen entwickeln, ist falsch“, plädierte der Mediziner. Wir Menschen seien stets aufeinander angewiesen und fest aufeinander bezogen. Daher sei es zentrale Aufgabe der Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass sich niemand übergangen fühlt. Denn der Mensch könne nicht alleine glücklich werden, sondern dies gelinge nur im Miteinander.
PFLEGE UND VERANTWORTUNG
In der Verantwortung für andere stecke das Wort „Antwort“. Diese Antwort sei die Sorge füreinander. Jedoch sei das Problem unserer Zeit, dass gerade in umsorgenden Berufen eine starke Reduzierung auf die mechanische Verrichtung gelegt werde: waschen, wickeln, füttern. Sorgearbeit aber müssen den Menschen in seiner Verletzlichkeit in den Mittelpunkt rücken. Denn „der Gegenüber, der kann auch ich sein. Wir müssen uns eingestehen, dass wir verletzlich sind, dann kann ich auch den Anderen verstehen“, so Maio. Auch Ärztinnen und Ärzte sollten die Sorge für ihre Patient*innen stärker in ihr Tun einbinden. Neugieriges Zuhören und Erkennen der Bedürfnisse des Gegenübers sei zentral dafür, den Menschen nicht einfach zu einem „Fall“ zu machen, sondern ihn in seiner Gesamtheit und Verletzlichkeit wahrzunehmen. Erst dann seien echte Gespräche auf Augenhöhe möglich und eine quasi hochnäsige Distanz resultiere aus einer Abwehr der eigenen Verletzlichkeit.
Aufgabe der Gesellschaft sei es, die strukturellen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass jeder und jede die Zeit habe, angemessen und würdevoll mit der Verletzlichkeit umzugehen.
Zur Person:
Giovanni Maio, Prof. Dr., geb. 1964, Studium der Medizin und Philosophie in Freiburg, Straßburg und Hagen. Seit 2005 Professor für Bioethik, seit 2006 Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin. Er berät die Deutsche Bischofskonferenz wie auch die Bundesregierung und die Bundesärztekammer.
Die Veranstaltung war eingebettet in eine Reihe zur Trauerkultur. Ein weiterer Vortrag mit dem Titel „Ewiges Leben und Wiedergeburt durch KI?“ widmet sich am Dienstag, den 3. Dezember 2024, um 19 Uhr dem Einfluss künstlicher Intelligenz (KI) auf die Trauerkultur. Diese Veranstaltungsreihe ist eine Kooperation der Katholischen Erwachsenenbildung Limburg und Wetzlar, Lahn-Dill-Eder (KEB), sowie Bestattungen Kirchberg Geschwister Ehmann KG. Alle Veranstaltungen finden im Bestattungszentrum (Im Großen Rohr 1, 65549 Limburg) statt, der Eintritt ist kostenfrei.
Spenden kommen der Stiftung Bärenherz zugute, die sich um schwerstkranke und sterbende Kinder und Jugendliche sowie deren Familien kümmert.